12. Sep 2023

»Ich war ein Vagabund, ein Landstreicher, ein Nichtsnutz, ein Straßenköter …«

Ein Klassiker der Weltliteratur, neu entdeckt: Der Autor, Journalist und Übersetzer Georg Brunold über seine Zeit mit Mohamed Choukri in Tanger
Zeit der Fehler
Empfehlung
Band 465 (2023)
48,00 €

20 Jahre nach seinem Tod: Die Wiederentdeckung des meistgelesenen Schriftstellers Marokkos, der jahrzehntelang wie Salman Rushdie auf der berüchtigten schwarzen Liste der Islamisten stand.

Ein Leben im Marokko der 1950er Jahre: Der zwanzigjährige Erzähler ist ein Rauf-, Sauf- und Hurenbold und zugleich ein ängstliches, einsames Kind. Nun ist er begierig darauf, lesen zu lernen. In 27 Kapiteln erzählt er, direkt und schonungslos, von einem Leben auf Messers Schneide, von den Tagen in der Schule in Larache und fiebrigen Nächten in Tanger. Darin verwoben die Gefühle und Erinnerungen: die zitternden Hände bei den ersten Schreibversuchen, die Jagd nach Essbarem, die Kälte und die Sehnsucht nach Rausch und Leidenschaft. Um zu Geld zu kommen, lässt er sich auf krumme Geschäfte ein. Das Geld braucht er nicht in erster Linie für Essen und Bleibe, sondern für Haschisch, Wein und Prostituierte. Doch immer mehr dringt Mohamed in die für ihn neue Welt der Bücher ein, und unmerklich geht eine Wandlung in ihm vor.

Begegnung mit Mohamed Choukri

Von Georg Brunold

»Er wohnt gleich bei Ihnen um die Ecke«, sagt Mounir, mit dem ich im Café de Paris an der Place de France sitze. Mounir ist Französischlehrer am Lycée Regnault, einer der altehrwürdigen französischen Staatsschulen in Übersee. Ich habe ihm die französische Ausgabe von Dris Ben Hamed Charhadis »Ein Leben voller Fallgruben« mitgebracht. »Aber nein, wir haben in Marokko unsere eigenen Schriftsteller, nicht bloß die Burschen vom Hauspersonal des Amerikaners Paul Bowles, deren Erzählungen er verkauft. Der Schriftsteller von Tanger ist Mohamed Choukri, Adresse Rue Moulay Abdellah. Fragen Sie im Dorado nach ihm, da können Sie ihm eine Nachricht hinterlassen.«

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Blick auf die Altstadt von Tanger, 1961

Tatsächlich, das Restaurant Dorado ist drei Hauseingänge von meiner Absteige an der Rue Allal Ben Abdallah, und am Tag nach meinem Kaffee mit Mounir sitze ich im Dorado Mohamed Choukri gegenüber. Zu seiner Wohnung biegt man fünfzig Meter in Richtung Boulevard Mohammed V. rechts um die Ecke, und nochmals hundert Meter weiter geht es die vier oder fünf Etagen hoch bis unters Dach. Im Sommer des folgenden Jahres, wir schreiben 1985, ziehe ich für vier Wochen bei ihm ein. Unter seiner Anleitung überarbeite ich die Übersetzung von »Das nackte Brot«. Choukri schreibt währenddessen an »Zeit der Fehler«. Das Ich im Text, den ich vor mir habe, ist sieben bis einundzwanzig Jahre alt, und er, kurz vor seinem fünfzigsten, begleitet sein dreißig Jahre jüngeres Ich auf dem Weg ins Berufsleben des Volksschullehrers und bei den ersten Gehversuchen als angehender Schriftsteller von Weltruhm. Ich bin mit ihm unterwegs durch Tanger, Tetuan und Oran in den Jahren 1942 bis 1956, er mit sich selber durch die folgenden fünf oder sechs Jahre.

Mit welchem Mohamed Choukri aber durfte ich 1985 Logis und Haushalt teilen? Der Straßenjunge war noch als Student bloß die halbe Zeit im Schlafsaal der Schule zu Hause gewesen, die übrige Hälfte in Cafés, Bars, Freuden- und Lagerhäusern oder auf dem Pflaster im Labyrinth der Medina von Tanger. Was für einen Mann mochte das Nomadenleben seiner Vergangenheit in dieser Dachwohnung an der Rue Moulay Abdellah abgesetzt haben? Die Kurve zum Familienleben hat er nicht gekriegt. »Ich war ein Vagabund«, sagt Choukri auf die Frage, ob er niemals habe heiraten wollen, »ein Landstreicher, ein Nichtsnutz, ein Straßenköter. Das kann nicht gut gehen unter der Haube.« Trotz aller gewonnenen Schlachten in diesem Überlebens- und Freiheitskampf: Ein Elend wie das, aus dem Choukri herkommt, hinterlässt bleibende Behinderungen. In den Tagen unseres geteilten Haushalts macht das Gesellschaftsleben der Cafés und Bars an der Wohnungstür halt. Die Glocke klingelt jeden Abend etliche Male, doch Besucherinnen und Besucher werden im Treppenhaus abgefertigt. Bin ich es, der Gäste bringt, kocht er die beste Tajine in Tanger. Das große Ehebett, Gästen vorbehalten sowieso, auch wenn er allein im Haus sei, habe schon Jahre keine Sterbensseele mehr empfangen. Es wird mir zugewiesen. Wie gewohnt, schläft er auf dem Sofa im verglasten Winterbalkon, den Buchregalen gegenüber, von denen ihn seine hiesigen Schriftstellerbekanntschaften aus früheren Tagen grüßen: Jean Genet, Tennessee Williams, Jane und Paul Bowles, auch Samuel Becketts »Warten auf Godot« mit der Widmung »Pour Mohamed Choukri très cordialement«.

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Mohamed Choukri (links) mit Jean Genet (mitte) und dem Schriftsteller Hassan Quakrim im Café de France, Tanger 1969, aufgenommen von Paul Bowles

Gewiss, außerhalb seiner vier Wände macht sich auch der fünfzigjährige Choukri immer noch als ein gestaltendes Element von Tangers öffentlichem Leben bemerkbar. Um den formellen Teil ist das Radiostudio von »Médi 1« besorgt, Tangers allgegenwärtiger Sender, der in jedem Einkaufsladen und in jeder Imbissstube läuft und die gesamte Stadtbevölkerung mit Choukris wöchentlicher Literatursendung bildet. Meist werden darin in einfachen Sätzen berühmte Schriftsteller aus Ost und West vorgestellt. Dermaßen hat ihn »Médi 1« in seiner Stadt bekannt gemacht, dass viele sich zu glauben weigern, es könnte am Ende doch derselbe hochgelehrte Choukri wie im Radio sein, den sie da im Dorado oder in der Bar von Moukhtar oder unten in der Bucht durch die Strandcafés rollen sehen. In Anlehnung an Jorge Luis Borges, der die vielschichtigen Kontakte und das kommunikative Verwirrspiel zwischen sich und dem »anderen Borges« zu ganzen Büchern ausgebaut hat, pflegt auch Choukri die Zweisamkeit von ihm und »l’autre Choukri« als ein amüsantes Feierabendspiel. Wird er spätabends auf einem Barhocker um einen Kontakt zu dem anderen Choukri im Radio angegangen, gibt er sich wählerisch.

Das nackte Brot
Empfehlung

Seine autobiographischen Romane »Das nackte Brot« und »Zeit der Fehler« werden gerne dem Genre des Picaro- oder Schelmenromans zugeschlagen. Ein moderner marokkanischer Simplicissimus des vergangenen Jahrhunderts. Zwei Bücher der Tücken, Listen und allerart Entfesselungskünste allenthalben und der stets aufs Neue beglückenden, da längst nicht mehr erwarteten Errettung aus großer Not. Doch dieser Realismus behilft sich weder mit Magie noch mit Komik noch mit irgendwelchen Karnevalsgirlanden. Wer auf Schlangenbeschwörer wartet, wird enttäuscht. Ebenso wenig wie solche pittoresken Töne passt eine Poesie mitleidheischender Rührseligkeit zur Karriere eines Straßenjungen. Was uns derweil allesamt am Kragen packt und mitreißt, ist dieser hungernde und schreiende, dürstende und lechzende Lebenswille. Auf steilen Stufen peitscht er den Knaben, Jugendlichen und jungen Erwachsenen erbarmungslos voran, verfallen an Liebe und Hass, Laster und Sünde oder woran denn sonst! Heil durch diese dunklen Nächte kommt oftmals einzig der, welcher den Irren, Übergeschnappten und Verrückten gut genug spielt, um gefährliche Banditen und Messerhelden in die Flucht zu schlagen. Ein Slalom aller erdenklichen Tricksereien, schmutzig bieder oder geistvoll originell, Selbsterhaltungsakrobatik bei allerentschiedenster Verweigerung nicht nur von Kapitulation, sondern Verweigerung zugleich von Verzicht aufs bittersüße Angebot an Ausschweifungen in diesem kurzen zweifelhaften Erdendasein. Durch Choukris Augen und Ohren sehen und hören wir in diesem Buch und denken mit seinem Gehirn. Die Nähe zu ihm lässt uns nichts davon spüren, dass der zum Studenten gereifte Straßenjunge seinen inneren Monolog erst dreißig Jahre später zu Papier bringen wird.

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