07. Febr. 2024

»Die männliche Rolle ist ein Synonym für Unsicherheit und die Suche nach Halt«

Dénes Krusovszky im Gespräch über »Das Land der Jungen«, übersetzt aus dem Ungarischen von Terézia Mora, und seine männlichen Hauptfiguren.

Alle Protagonisten in diesem Erzählungsband sind männlich, Männer oder Jungen, und häufig geht es um die Frage der Selbstfindung und die Frage nach dem Platz in der Gesellschaft. Man könnte sagen, das Thema des Bandes ist die Erkundung der männlichen Seele. Scham, Angst, Liebe, Gewalt und Tod spielen eine große Rolle. Was ist es, dass Sie am Thema Männlichkeit interessiert hat?

Das Land der Jungen
Empfehlung
Band 470 (2024)
48,00 €

Mich hat die Frage der Männlichkeit aus zwei Perspektiven interessiert: einerseits als eine Erwartung, die Männer oft an sich selbst stellen, und als eine Art Konformitätsdruck, der von außen kommt. Zum anderen als Symptom einer Krise. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben sich die traditionellen sozialen Rollen weitgehend aufgelöst, die alten Schablonen sind leer geworden, aber das spiegelt sich nicht immer auf der individuellen Ebene wider. Heute scheinen viele Menschen eine Krise der männlichen Rolle zu erleben, sie erinnern sich an die alten Formen, aber sie wollen sie nicht leben, die neuen Formen sind aber noch nicht gefunden, oder sie fühlen sich darin nicht sicher. Dieses Thema hat mich auch deshalb interessiert, weil die männliche Rolle meiner Meinung nach heute ein Synonym für Unsicherheit und die verzweifelte Suche nach einem Halt ist. Neben all dem bietet diese Krise auch die Gelegenheit, grundlegende menschliche Fragen zu stellen.

 

»Das Land der Jungen« ist Ihr erster Erzählungsband, der bereits 2014 erschien. Vorher sind Sie vor allem als Lyriker hervorgetreten. Die Erzählungen sind vom Ton her sehr vielfältig, Sie schlüpfen in immer wieder neue Erzählerrollen. Macht gerade das beim Schreiben von Erzählungen den Reiz aus?

Ein Band mit Kurzgeschichten eignet sich in der Tat dazu, viele verschiedene Stimmen und Sichtweisen nebeneinander zu stellen. Für mich war es der Übergang von der Lyrik zur Prosa. Später habe ich die Erfahrungen mit diesem Band auch in meine Romane einfließen lassen. Und seitdem schreibe ich Kurzprosa. Es ist immer wieder erstaunlich spannend, wie reichhaltig dabei die Möglichkeiten sind, mit Sprache, Figuren, Geschichten und Sätzen zu experimentieren. Für mich ist die Kurzgeschichte nach wie vor ein geheimnisvolles Genre, das gerade wegen seines Geheimnisses so verlockend ist.

 

Dem Titel des Bandes liegt ein Song der amerikanischen Band Deftones zugrunde, den ein junges Paar in einer der Erzählungen zusammen hört: »The Boy’s Republic«. Was hat es mit diesem Lied auf sich?

Beim Schreiben der titelgebenden Kurzgeschichte, die teilweise autobiografische Züge trägt, fiel mir dieser Song aus meiner Jugendzeit ein. Eine Zeit lang mochte ich die Deftones sehr, dann habe ich sie aus irgendeinem Grund lange überhaupt nicht mehr gehört. In dem Song steckt so viel Schmerz, der herausbrechen will, aber dann doch unterdrückt wird. Der Liedtext ist recht seltsam, ein bisschen verwirrend, dunkel, unklar. Ich hatte das Gefühl, dass er dem Gemütszustand meiner Figur sehr nahe kommt. Und der Titel passte zum Thema des ganzen Buches: nicht das Land der Männer, sondern das Land der Jungen. Dazu gehört auch der kindliche Aspekt von Männlichkeit.

 

Die letzte Erzählung des Bandes, »Das Ende der Nacht«, fällt insofern aus dem Rahmen, dass sie nicht in der Gegenwart, sondern im 19. Jahrhundert spielt, und eine historische Person zur Hauptfigur hat: den Tschechen František Rint, der 1870 von dem Fürsten von Schwarzenberg beauftragt wurde, in Sedletz bei Kutná Hora ein Ossuarium, ein Beinhaus, einzurichten. Er schuf dort aus den Gebeinen von rund 10.000 Menschen regelrechte Kunstwerke, darunter menschengroße Abendmahlskelche, Monstranzen und Lüster.  Wie kamen Sie auf diesen Stoff?

Ich habe dieses Beinhaus zum ersten Mal besucht, als ich noch auf dem College war, und ich war ziemlich beeindruckt von dem, was ich dort sah: unheimlich, sicher, aber auch monumental. Und fern aller Lebenswirklichkeit, aus heutiger Sicht. Das Thema hat mich jahrelang beschäftigt. Ich habe Freunde, die gut Tschechisch sprechen, um Hilfe gebeten, aber ich habe nur wenig über den echten František Rint herausgefunden. Schließlich beschloss ich, mir auf der Grundlage der wenigen Informationen selbst vorzustellen, was hinter all dem stecken könnte. Was könnte dieser Mann gefühlt haben, warum hat er an all diesen menschlichen Überresten herumhantiert, und wie hat seine Umgebung das alles aufgenommen? In gewisser Weise ist es die Geschichte eines Künstlers, aber die von ihm gewählte künstlerische Form ist außergewöhnlich. Beim Schreiben wurde auch klar, dass diese Figur, dieser Mann, genauso verloren, unsicher und auf der Flucht ist wie die Männer von heute, die in meinen anderen Kurzgeschichten vorkommen. Dass die als Krise erlebte männliche Existenz nicht per se eine heutige Erfahrung ist, dass es auch um einen allgemeingültigen männlichen Daseinszustand geht.

 

Seit damals haben Sie weitere Gedichtbände, zwei Romane und Essays veröffentlicht. Woran schreiben Sie gerade?

Mein zweiter Roman kam vor kurzem heraus. Er spielt in einer kleinen Stadt im Osten Ungarns, wo im Frühjahr plötzlich alle Blätter von den Bäumen fallen. Was steckt dahinter – eine Naturkatastrophe, Umweltverschmutzung, ein Gottesurteil? Die Einwohner suchen nach Antworten oder leugnen die Realität des Ganzen, während der Literaturlehrer des Gymnasiums zu verstehen versucht, was um ihn herum geschieht. Es war wichtig für mich, dieses Buch zu schreiben. Seitdem habe ich wieder angefangen, Gedichte zu schreiben. Mein nächstes Buch wird definitiv ein Gedichtband sein.

 

Wir hoffen, wir können bald noch mehr von Ihnen auf Deutsch lesen. Herzlichen Dank.

Das Gespräch führte Rainer Wieland.

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